Dr. Hans-Jochen Vogel zählt zu den Politikern, die sich immer für die Demokratie und sozialen Werte in der Gesellschaft stark gemacht haben. Mit seinen mittlerweile 84 Jahren steht er noch mitten im Leben und blickt auf eine lange, erfolgreiche Karriere zurück, die seine Meinung zum Thema „Werte“ massiv geprägt hat. Eine spannende Veranstaltung unter dem Titel „Warum wir ohne Werte nicht leben können!“, durften die Gäste beim Vortrag am 15. Januar 2010 in den Räumen der Schweisfurth-Stiftung im Südlichen Schlossrondell erleben. Im Rahmen des Club-Jahresmottos „Herausforderung Wertewandel“, sprach Dr. Vogel über die Wertordnung des Grundgesetzes und welche Folgen sich daraus auch für das (Marketing-)Management von Unternehmen ergäben.
Dem Grundgesetz, meinte Vogel, liegt eine Wertordnung zugrunde. Ihr zentrales Element findet sich bereits im ersten Satz, der wie folgt lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Damit habe der Parlamentarische Rat vor 60 Jahren eine eindeutige Antwort auf die Ideologie des menschenverachtenden NS-Gewaltregimes und seine maßlosen Verbrechen gegeben. Im Einklang mit diesem Hauptgrundwert, normiere das Grundgesetz als konkrete Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in Form des Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzips. Dem Einzelnen bleibe es dabei überlassen, ob er diese Wertordnung aus seiner christlichen Überzeugung, dem Humanismus oder aus anderen Religionen ableite.
Nicht nur für das Gemeinwesen, sondern auch für das eigene Tun und Lassen sei die Orientierung an diesen Werten wesentlich. Gefährdet sei diese Orientierung unter anderem durch eine gewisse Tendenz zur Beliebigkeit, zunehmende Akzeleration und steigende Flut von Informationen und elektronischen Reizen.
Besonders gefährlich erscheint Vogel die durch die Globalisierung geförderte, umfassende Ökonomisierung. Sprich die Entwicklung, die dem Markt wesentlich gesellschaftliche Entscheidungen überlasse und ihn aus einem unentbehrlichen, anderen Wirtschaftsordnungen überlegenen Instrument zum bestimmenden Faktor werden lasse, obwohl er für die sozialen und ökologischen Folgen seiner Entscheidungen blind sei und sich nicht an den genannten Werten orientiere. Der materielle Erfolg werde damit zum alles entscheidenden Kriterium. Der Shareholder-Value, also der Aktienwert, welcher durch exzessive Gewinnziele und oft genug durch den Abbau von Arbeitsplätzen ansteige, werde zu dem „Wert“, der alle wirklichen Werte verdränge. Folgerichtig spreche man dann vom Menschen als „Humankapital“. Und das alles dringe mehr und mehr auch in Lebensbereiche vor, in denen das ökonomische Prinzip nichts zu suchen habe.
Ein weiteres und zur Zeit besonders aktuelles Beispiel für materielle Maßlosigkeit, die sich über alle wertbezogenen Grenzen hinwegsetze, seien die nicht zu rechtfertigenden Millionenabfindungen für Vorstandsmitglieder, die ihre Unternehmen an den Rand des Zusammenbruchs geführt hätten. Das Gleiche gelte für die exorbitanten Steigerungen der Vorstandsbezüge in bestimmten Unternehmen. Diese seien in den letzten Jahren um mehr als 100 Prozent, teilweise sogar bis zu 300 Prozent erhöht worden. Und das in einer Zeit, in der die gleichen Vorstände ihre Mitarbeiter zum Maßhalten aufgefordert, ihnen Kürzungen zugemutet oder sie sogar in großer Zahl entlassen hätten. Unternehmen erscheinen dann nur noch als Konstrukte zur Gewinn-Maximierung, nicht als soziale Verbände, deren Glieder wechselseitig füreinander Verantwortung tragen. Dabei sage Artikel 14, Grundgesetz in Absatz 2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Auch deshalb werde im selben Artikel das Eigentum gewährleistet.
Es sei also notwendiger denn je, auf die Wertordnung insgesamt und die konkreten Werte zurückzugreifen. Das gelte nicht für die nötigen staatlichen Rahmensetzungen, sondern auch für das Verhalten der Verantwortlichen. Das könne dann auch zu einer Korrektur der harten Feststellung führen, die der große Schriftsteller John Steinbeck zugespitzt so formulierte:“ Die Dinge, die wir an den Menschen bewundern, Freundlichkeit, Offenheit, Aufrichtigkeit, Verständnis und Mitgefühl, sind in unserem System die Begleiterscheinungen des Versagens. Jene Charakterzüge, die wir verabscheuen, Härte, Habgier, Gewinnsucht, Niedertracht, Egoismus und Eigennutz, sind die Merkmale des Erfolgs. Und während Menschen die Qualität von Ersterem bewundern, lieben sie doch das Produkt von Letzterem“.
Fotos: Klaus Becker
Interview: Norbert Gierlich
Videotechnologie: TV1.EU